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Jürg, das Geschäft der SUISA basiert in hohem Masse auf der Definition und Pflege von Werksdaten sowie auf der Erhebung und dem Management von Nutzungsdaten. Welche speziellen Herausforderungen bietet das Management dieser Daten?

Um unsere speziellen Herausforderungen zu verstehen, muss man ein wenig in die Geschichte der Musikrechte blicken. Noch vor 150 Jahren beschränkte sich die Nutzung von Musik auf die Aufführung im Rahmen eines Konzertes, es war der Ursprung unseres heutigen Event-Geschäfts. Mit dem Aufkommen der ersten Wachszylinder erstreckte sich das Urheberrecht auf einmal auf die mechanische Vervielfältigung – ein neues Produkt war geboren. Mit der Entwicklung zur Schellack- und Vinylscheibe, später dann zur CD ist dieses Produkt massiv gewachsen und damit auch die Anforderungen an die Erhebung und Übermittlung der Daten. Und mit dem Streaming hat sich der Markt noch einmal völlig neu aufgestellt. Die Musikkonsumenten kaufen nicht mehr eine kleine Auswahl der zur Verfügung stehenden Musik, die sie dann im heimischen Wohnzimmer konsumieren, nein, sie haben die Möglichkeit, sich aus einem riesigen Katalog von 40 bis 60 Millionen Werken zu bedienen – rund um die Uhr und wo immer sie sich gerade befinden. Wir bewegen uns also in einem Umfeld, das sich aufgrund des technischen Fortschritts ständig neu definiert und dessen Umfang und gesellschaftliche Bedeutung massiv gewachsen sind. Der Konsum von Musik ist von einem eher elitären Vergnügen zu einem Massenphänomen geworden – mit einer gigantischen Auswahl an Werken zu einem Preis, den sich jeder leisten kann. Die Komplexität wächst noch einmal durch eine weitere Dimension, nämlich das internationale Gefüge, in dem die Musikrechte erfasst, gepflegt und eingefordert werden. Wird eine Schweizer Künstlerin oder ein Schweizer Künstler beispielsweise in den USA gespielt, so stellen bilaterale Vereinbarungen und daraus resultierender Datenaustausch erst sicher, dass die Tantiemen in der Schweiz ausbezahlt werden können.

«Dank Usage Forecasting können wir Vorhersagen über die Nutzung einzelner Titel treffen. So können Geldflüsse vorhergesagt werden, was die finanzielle Planungssicherheit unserer Mitglieder erhöht»

– Jürg Ziebold, SUISA

Welche Chancen eröffnen in diesem Umfeld neue Technologien, speziell natürlich die künstliche Intelligenz?

Die Speicherung und auch der schnelle Austausch von Daten sind heute weniger ein Problem. Unsere Herausforderung liegt da­rin, die Qualität der riesigen Datenmengen sicherzustellen. Für unsere Mitarbeitenden ist es kaum noch möglich, Abweichungen und Auffälligkeiten in den Daten zu erkennen, um so letztendlich den Musikschaffenden – unseren Mitgliedern und Auftraggeber­innen bzw. Auftraggebern – die bestmög­liche Verwertung ihrer Rechte zu bieten. Hier setzen wir in Zusammenarbeit mit ti&m mit Machine-Learning-Verfahren an: In einem ersten Schritt werden alle Onlinemeldungen von den grossen Streaming Companies mittels Machine Learning auf Anomalien überprüft. Später werden wir das auf weitere Nutzungsdaten wie Abspielungen im Radio oder die Nutzung bei Aufführungen und Veranstaltungen erweitern. Ein weiterer Anwendungsfall, den wir unseren Mitglie­dern in unserem neuen Mitgliederportal zur Verfügung stellen werden, ist die Vorhersage der Nutzung einzelner Titel, das Usage Forecasting. Damit können wir gezielt Geldflüsse vorhersagen und Risiken managen und so für unsere Mitglieder finanzielle Planungssicherheit schaffen. So können zum Beispiel Ver­lage auf Basis dieser Prognosen spezifische Marketing- und Verkaufsmassnahmen in de­finierten Regionen entwickeln. Auch hier werden Machine-Learning-Verfahren einge­setzt, die eine verlässliche Extrapolation der bisherigen Nutzung im Kontext des gesamten Datenaufkommens bewerkstelligen. Die grosse Herausforderung in der Projektumsetzung lag in der schnellen Verarbeitung der grossen Datenmengen. Um eine schnelle Verfügbarkeit der Prognosen und Analysen zu gewährleisten, haben wir gemeinsam mit den Expertinnen und Experten von ti&m tief in die Trickkiste greifen müssen. Letztendlich erfolgreich – innerhalb von 24 Stunden stehen die Informationen den Mitarbeitenden bzw. den Mitgliedern zur Verfügung.

Wie weit verändern die Machine-Learning-Anwendungen euren Arbeitsalltag, etwa eure internen Arbeitsprozesse oder die Zusammensetzung der Teams?

Einige Aufgabenbereiche verändern sich, die Arbeiten verlagern sich, Aufgaben fallen weg oder es kommen neue hinzu. Insgesamt bekommen wir eine neue Qualität, die uns hilft, die immer grösseren Datenmengen effizient und effektiv zu verarbeiten. Im Bereich der Anomaly Detection können wir zum Beispiel auf die mühsame Erhebung und Auswertung von Stichproben verzichten, denn es wird ja sowieso der gesamte Bestand analysiert. Dafür haben wir sehr viel mehr Anomalien, denen wir nachgehen müssen. Insofern können wir mit dem gleichen Mitarbeitendenstamm eine höhere Qualität bei grösserem Datenvolumen sicherstellen – ein Effekt, den wir so oder ähnlich auch bei weiteren KI-Anwendungen erwarten.

«Um Musikschaffenden die bestmögliche Verwertung ihrer Rechte zu bieten, müssen wir Abweichungen und Auffälligkeiten in den Daten erkennen können. Aufgrund der grossen Datenmenge ist eine effektive Anomaly Detection ohne KI kaum möglich»

– Jürg Ziebold, SUISA

Ein gutes Stichwort. Sind weitere KI-basierte Projekte geplant?

Ja. Wir werden gemeinsam mit ti&m im Verlauf des nächsten Jahres ein erstes Minimum Viable Product (MVP) einer automatischen Protokollierung von Kundenge­­­sprächen erstellen. Wie bei jedem Dienst­leister wird auch bei uns jeder Kun­den­kontakt, speziell jedes Telefonat, protokolliert. Meist entsteht aus einem Kontakt noch ein Ticket zu einer weiterführenden Aktivität. Zurzeit wird dieses Protokoll manuell von den Mitarbeitenden im Service erfasst. Das kostet Zeit und resultiert in Protokollen von sehr unterschiedlicher Qualität und Detaillierung. Unser Ziel ist der Einsatz eines Large Language Models (LLM) wie zum Beispiel ChatGPT, welches alle Kundengespräche transkribiert und daraus zusammenfassende Protokolle in gleichbleibender Qualität erstellt. Das soll für alle Schweizer Sprachen und Dialekte funktionieren, selbst wenn das im Gespräch mal durcheinander geht. Und in Echtzeit, das heisst, die Servicemitarbeitenden bekommen das Protokoll direkt nach Abschluss des Gespräches vorgelegt und haben so die Möglichkeit, noch Änderungen oder Ergänzungen einzubringen. Weiterhin werden wir noch einen Chatbot in unser Mitgliederportal integrieren, der autonom mit unseren Mitgliedern kommunizieren und ihnen die gängigsten Auskünfte auf Basis unserer internen Knowledge Base geben kann. Hier müssen wir noch weitere Erfahrungen mit der Qualität der Aussagen sammeln, bevor wir einen solchen Service anbieten. Denn letztlich müssen sich unsere Mitglieder auf die Aussagen verlassen können.

«Mit der automatischen Transkription von Kundengesprächen oder der Integration eines
Chatbots in unser Mitgliederportal setzen wir in den nächsten Monaten weitere KI-basierte Anwendungen um»

– Jürg Ziebold, SUISA

Abschliessend noch ein kurzer Blick auf einen weiteren Trend im Datenmanagement. Der Hype um die Blockchain schien völlig versiegt zu sein, ist aber durch das Aufkommen der NFTs, gerade im Umfeld von digitalen Kunstwerken, wieder aufgelebt. Inwieweit tangiert das euer Geschäft?

Mit der Blockchain und ihren Einsatzmöglichkeiten beschäftigen wir uns bereits länger. Vor drei Jahren haben wir mit ti&m in ersten konkreten Workshops unsere komplette Verarbeitungskette auf Potenziale für den Einsatz von Blockchain-Technologien überprüft. Und wir haben ganz aktuell eine eingehende Untersuchung aller Aktivitäten der internationalen Musikindustrie in Bezug auf Blockchain-Anwendungen durchgeführt.
Wir sehen interessante Ansätze, etwa im Bereich eines konsistenten Metadaten-Managements für Musikwerke und einer damit einhergehenden besseren Qualität der Werkskataloge. Oder auch im Bereich der Tokenisierung von Musikrechten, die den Rechtehaltern neue Möglichkeiten der Mone­ta­risierung eröffnen. Viele bisherige dahingehende Initiativen von Verwertungsgesellschaften im umliegenden Ausland sind nach unserer Wahrnehmung allerdings mehr vom Marketing getrieben, als dass sie Mitgliedern echten Nutzen bieten würden. Aber wir verfolgen das Thema weiterhin. Ich erwarte da durchaus noch wichtige Impulse für unser Business.

Das war ein Beitrag aus dem ti&m special «KI»

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