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New Work, Future of Work, neue Arbeitswelten. Machen wir zu Beginn etwas Begriffsdefinition. Was ist der Unterschied?
Ich habe keine Ahnung! Ich halte das auch eher für Bullshit-Bingo! Bestenfalls sind das Marketingbegriffe, um Dinge zu verkaufen, die es schon ewig gibt. Jeder hat diese Begriffe mit eigenen Definitionen versehen. Die Arbeit entwickelt sich, seit diese ‹erfunden› wurde.

Sind die Begriffe also so nutzlos wie Industrie 2.0, 3.0 oder 4.0?
Das Industriezeitalter haben wir ja sowieso längst verlassen. Laut der UN leben wir seit 2010 in der Digitalisierung, nicht mehr in der Industrialisierung.

Weltweite Digitalisierung von Produktionsprozessen?

Wer lebt dort? Der Westen oder die Welt?
Selbst Gesellschaften, die noch in der Agrarwirtschaft stecken, profitieren von und partizipieren an der digitalen Transformation. So werden beispielsweise indische Bauern im World Food Programm in Stable Coins bezahlt und können so am Wirtschaftskreislauf teilnehmen – was vorher nicht möglich war.

Wie werden wir in Zukunft arbeiten? KI und RPA sind in vielen Bereichen schon Usus. Was kommt als Nächstes?
Die Veränderung hat mehr mit Strukturen und Prozessen und weniger mit Technologie zu tun. Roboter und KI mögen in gewissen Bereichen ganz sinnvoll sein. Das ist aber nicht der Punkt. Wir werden erleben, wie die Produktion wieder in unsere Länder verlegt wird. Nehmen wir das Billy-Regal von IKEA: Zurzeit wird das vorwiegend in China, Südkorea und Georgien gebaut. Neu werden wir in Europa ein Netzwerk an Tischlern haben mit einer lokalen digitalen Produktionsmaschine, die nicht mehr – wie noch vor sechs Jahren – eine halbe Million kostet, sondern nur noch 65’000 Euro. Die Produktionskosten gehen runter, weil die Produktionsvorbereitungskosten viel billiger werden. Man codet ein paar Zeilen (oder bekommt gleich einen digitalen Konstruktionsplan übermittelt), und schon kann man ein Regal vor Ort produzieren. Das gilt auch für Kleidung oder andere Produkte. Die Produktionsprozesse und damit auch die Wertschöpfung werden wieder lokaler, und sie werden individueller.

Digitalisierung in der Produktion am Beispiel Red Bull

Westeuropa wird seine Innovationen also wieder selber herstellen?
Klar. Nehmen Sie die Lebensmittelindustrie und das Aufkommen der Foodlabs. Im Foodlab in Hamburg werden von ca. 500 Innovationen pro Monat vier bis fünf Produkte umgesetzt und auf den Markt gebracht. Die Foodlabs sind natürlich noch klein und keine Gefahr für Nestlé und Co. Aber sie wachsen bis zu 3’000 Prozent pro Jahr. Der Innovationsgrad ist viel höher, die Prozesse viel fairer. Wir erleben bereits heute, dass Mindworker nicht mehr irgendwohin fahren müssen, um ihre Arbeit zu erledigen. Das wird auch in der Produktion zunehmend möglich sein.

Und statt Massenproduktion individuelle Produkte?
Red Bull hat eine Abfüllanlage mit einer Kapazität von, ich glaube, 90’000 Dosen pro Minute. Letztens wurde über eine neue nachgedacht – für nur noch 9’000 Dosen die Woche. Der Grund: Einzelne Bars könnten anhand von digitalen Parametern ihre eigene Geschmacksrichtung herstellen, die es dann nur in dieser Bar gibt.

«Es gibt nicht das eine Modell in der Digitalisierung»

Wo und wie werden wir produzieren?
Wir werden nicht mehr in grosse Metropolen abwandern müssen, wie das zu Zeiten der Industrialisierung der Fall war. Damals war alles auf grosse Industriezentren ausgelegt. Wir werden zunehmend polyzentral unterwegs sein: kleine, autarke, aber dennoch vernetzte Strukturen. Das bringt grosse Veränderungen für die Infrastruktur: grosse Gewerbeparks, Zufahrtsstrassen für Rohstoffe, zentralisierte Städte; all dies wird es nicht mehr geben. Wir werden weniger umziehen, weil man nicht mehr der Arbeit nachgehen muss. Volkswagen hat z.B. überall auf der Welt Co-Working-Spaces eingerichtet, wo Mitarbeitende zusammenkommen können. Also mehr Individualität und Lokalität. Das ist eine grosse Chance für kleine und mittlere Städte.

Dezentrale, lokale Wirtschaft, Remote-Work von zuhause aus. Ich dachte immer, wir werden als Digital Nomads um die Welt Reisen und zwischen veganem Kochen und Yoga ein paar Teams-Meetings auf Bali haben.
Diese Freiheit hast du, ja – aber du musst sie nicht nutzen. Es gibt nicht das eine Modell in der Digitalisierung. Man kann sich sein Lebensmodell sehr individuell zusammenstellen. Wichtig ist zu verstehen, dass die lokale Wertschöpfung auch in kleinere Orte zurückkommt. Das erhöht die Möglichkeiten, auch in diesen zu leben und war so in der Industrialisierung nicht möglich.

Wie sich Produktionsprozesse digitalisieren

Heisst das, die gesamte Produktion wird lokal erfolgen? Wenn sich eine Schweizer Firma z.B. auf den Zuschnitt von Holzmodulen spezialisiert, dann werden die ersten Prozessschritte aber immer noch im Ursprungsland erfolgen – im Baltikum oder in Russland. Man importiert doch nicht ganze Baumstämme, wenn man nur 30 Prozent davon verarbeiten kann.
Im Fall des Billy-Regals, das aus Holzabfällen besteht, kann die Produktion lokal erfolgen, weil es genügend Holzabfälle gibt. Aber klar, in anderen Bereichen wohl eher nicht. Es wird kein Entweder-oder geben. In der Industrialisierung haben wir gelernt: Wenn man einmal einen bestimmten Prozess für ein bestimmtes Produkt definiert hast, dann ist das die optimale Lösung. In Zukunft wird es nicht mehr den einen Prozess für das eine Produkt geben. Sondern Prozesse, die sich nach den jeweils lokalen Möglichkeiten richten.

«In Zukunft wird es nicht mehr den einen Prozess für das eine Produkt geben. Prozesse werden sich nach den jeweils lokalen Möglichkeiten richten»

Digitale Prozesse sollen die Lebensqualität steigern

Was bedeutet denn die Digitalisierung für die Jobprofile? Statt einen Tisch von Hand zu zimmern, müssen die Schreiner dann einen Code eintippen. Die, die es jetzt schon schwer haben, werden sich kaum zum IT-Facharbeiter umschulen können.
Am Anfang musste man tatsächlich programmieren können, um so eine Maschine einzustellen. Heute gibt’s ein einfaches UX – grosse IT-Kenntnisse sind da nicht mehr nötig. Das Gleiche gilt für die Medizin und die Pflege: In Deutschland können Pflegefachkräfte dank KI-unterstützten Systemen eine Vordiagnose vornehmen – und müssen nur noch in Einzelfällen einen Arzt konsultieren. Pflegefachkräfte brauchen dafür eine Zusatzausbildung und verdienen dafür fast das Doppelte. Eine Riesenchance für Pflegeberufe! Abgehängt werden jene, die nur genau das machen wollen, das sie bisher getan haben.

Welche Schlüsselkompetenzen wird es künftig brauchen?
Während der Industrialisierung brauchte es weniger Kompetenzen, sondern vordringlich Fähigkeiten und Qualifikationen. Die notwendigen Entscheidungen für Normen und Werte übernahm die Struktur des Systems. Und heute braucht es die Kompetenz, wieder selber zu entscheiden,  welche Normen und Werte man seinem Handeln zugrunde legen möchte. Es wird daher in unserer Gesellschaft zunehmend eine Wertediskussion geben, welche Arbeiten ich in welcher Form und mit welchem sozialen und ökologischen Impact ausführen oder ausführen lassen will. Solche Entscheidungen werden natürlich schon auch kostengetrieben sein, aber der Wertefaktor wird an Bedeutung gewinnen, denn es fällt viel direkter auf mich und meine Entscheidung zurück und ist übrigens auch rückverfolgbar. Bisher wurden Daten genutzt, um Prozesse zu optimieren und ein besseres Kosten-/Nutzenverhältnis zu schaffen. Ich denke, wir werden Daten vermehrt nutzen, um die Lebensqualität zu steigern, und nicht nur, um produktiver zu werden.

Welche Ratschläge geben Sie Firmen, um sich jetzt richtig für die Zukunft aufzustellen?
Auf die eigenen Möglichkeiten schauen. Überlegen: ‹Was kann ich tatsächlich umsetzen?› statt: ‹Was könnte alles passieren, worauf ich vorbereitet sein muss?› Das war das Denken während der Industrialisierung. Das Benchmarking wird demzufolge nicht mehr wichtig sein, da es zunehmend entfällt. Man ist nicht mehr an grosse Strukturen gebunden und hat daher viel mehr Möglichkeiten, sich flexibel im Kleinen zu vernetzen. Nicht auf Basis eines industriellen Denkmusters, sondern in neuen gesellschaftlichen Modellen. Darauf aufbauend individuell entscheiden, was man machen möchte. Man muss nicht unbedingt sagen: ‹Jetzt machen wir etwas mit KI.› Vielleicht gibt es überhaupt keinen Grund dazu.

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